Paulo Freire

Aus AkiWiki

(Unterschied zwischen Versionen)
Wechseln zu: Navigation, Suche
(/* 100 Jahre Paulo Freire in 2021 * ==Freie Schule in Erandique, Honduras==)
(Links: * Peter McLaren: Kritische Pädagogik und der Rückzug der Linken, In: Das Argument, 2020 ... http://www.linksnet.de ...)
Zeile 275: Zeile 275:
http://www.widersprueche-zeitschrift.de/article671.html?PHPSESSID=2b306
http://www.widersprueche-zeitschrift.de/article671.html?PHPSESSID=2b306
-
* Peter McLaren: Kritische Pädagogik und der Rückzug der Linken,  
+
* Peter McLaren: Kritische Pädagogik und der Rückzug der Linken, In: Das Argument, 2020 ... http://www.linksnet.de ... https://www.linksnet.de/artikel/18301
-
in Das Argument http://www.linksnet.de/artikel.php?id=801
+
.
.
-
 
==The Paulo and Nita Freire International Project for Critical Pedagogy==
==The Paulo and Nita Freire International Project for Critical Pedagogy==

Version vom 9. Juni 2020, 21:16 Uhr

Inhaltsverzeichnis

Paulo Freire

1921-1997

In Freires Ansatz findet sich eine erweiterte Bedeutung von Erziehung und Bildungsarbeit, mit der die ganze Bandbreite der sozialen Beziehungen erfasst wird; dies ermöglicht uns, unser Verständnis von Pädagogik perspektivisch auszuweiten zu einem Projekt der Befreiung, das sich nicht nur auf die individuellen Erziehungsfälle, sondern auch auf die Gesellschaft insgesamt bezieht.


1. Leben

Paulo Freire wurde am 19.9.1921 in Recife, im Nordosten Brasiliens, in einer Mittelschichtfamilie geboren, die im Rahmen der Weltwirtschaftskrise die Probleme aller, d.h. Hunger und Niedergang, erlitt. Er studierte am Heimatort Rechtswissenschaft, schloss 1959 mit der Promotion ab und arbeitete als Rechtsanwalt, wobei er sich bereits zu dieser Zeit mit Fragen der Erwachsenenbildung beschäftigte. 1961 begann er auf Vorschlag des Bürgermeisters von Recife, sich mit dem Problem der Alphabetisierung zu beschäftigen, und entwickelte einen Ansatz, den er sukzessive auf weitere Gebiete Brasiliens – bis hin zur gesamtstaatlichen Ebene – übertrug. Nach dem rechten Militärputsch wurde er 1964 für 70 Tage ins Gefängnis gesteckt und dann gezwungen, ins Exil zu gehen. Während dieser Zeit lebte er in Chile (wo er sein wichtigstes Werk, die PÄDAGOGIK DER UNTERDRÜCKTEN, schrieb), in den USA und in der Schweiz (beim Weltkirchenrat), außerdem koordinierte er Alphabetisierungsprojekte in Tansania, Guinea-Bissao, Angola, Mosambik, Sao Tome und Principe. 1980 kehrte er nach Brasilien zurück, um dort an Universitäten zu unterrichten und später in Sao Paulo als Erzziehungsminister zu arbeiten. Paulo Freire starb am 2. Mai 1997 im Alter von 75 Jahren.


2. Werk

Freires Verständnis von Erziehung und Bildung als eines wesentlich politischen Projektes, das auf die Transformation der Gesellschaft gerichtet ist, hat pädagogische und soziale Bewegungen in der ganzen Welt beeinflusst ... Seine pädagogische Konzeption geht von einer tief empfundenen Ehrfurcht und Demut vor dem armen und unterdrückten Volk aus und ist vom Respekt vor seinem "gesunden Menschenverstand" getragen, der Freires Auffassung nach ein nicht weniger wichtiges Wissen begründet als das wissenschaftliche Wissen des Professionellen. Solche Bescheidenheit verkörpert das gegenseitige Vertrauen und der Austausch zwischen dem Erzieher, der im Lehren lernt, und dem Schüler, der ebenfalls lehrt. Auf diese Weise gerät der Bildungsprozeß zu einer "Zwiesprache" zwischen den an ihr Beteiligten in einem wechselseitig anregenden Dialog und ist damit eine Alternative zum traditionell einseitigen Handeln des einen zum Wohle des anderen...Der Lehrer soll nicht neutral sein, sondern in die pädagogische Situation dergestalt eingreifen, dass er dem Schüler hilft, seine Sichtweisen von der Welt, die ihn lähmen, zu überwinden, und ihm kritisches Denken beibringt.

Gegen das "Bankiers-Konzept der Erziehung"

Freire kritisierte die vorherrschenden Erziehungsformen, weil sie den zu Erziehenden den Status von passiven Objekten zuweisen, die von den Lehrern zu bearbeiten (traktieren) sind. In dieser traditionellen Form von Erziehung ist es die Aufgabe des Lehrers, die Informationseinheiten, die Bildung konstituieren, in den Köpfen der Schüler zu deponieren, die – in völliger Verkennung des wahren Sachverhalts – als leer erachtet werden.

Freire bezeichnete dies als das "Bankiers-Konzept" der Erziehung. Ziel des Bankiers-Konzeptes ist es, die Menschen durch Konditionierung in die herrschenden Machtzusammenhänge einzupassen, damit sie akzeptieren, dass nur die Unterdrücker über das Eigentum an Sinn und historischer Gestaltungskraft verfügen... Im Bankiers-Modell von Erziehung und Bildung wird das Wissen als Gabe (analog zur Spareinlage) begriffen, die dem Schüler vom Lehrer überreicht wird. Diese falsche Generosität seitens der Unterdrücker, die offensichtlich darauf zielt, die Unterdrückten zu integrieren und zuzurichten, ist in Wirklichkeit das entscheidende Medium von Herrschaft.

Die problemsetzende Methode Freires

Gegen das Bankiers-Modell setzte Freire eine dialogische, problemsetzende Methode der Erziehung und Bildung. In diesem Modell werden Lehrer und Schüler gemeinsam die Erforscher von Wissen und Welt. Statt den Schülern zu suggerieren, ihre gesellschaftliche Lage sei durch Natur- oder Vernunftgründe vorherbestimmt, wie es das Bankiers-Modell tut, lädt Freires problemsetzende Erziehung bzw. Bildung die Unterdrückten dazu ein, ihre Wirklichkeit als ein "Problem" zu untersuchen, das zu lösen ist. Inhalt wie Gehalt dieser Erziehung/Bildung können nicht durch die Erfahrung des Erziehers im voraus bestimmt werden, sondern müssen aus der gelebten Realität des zu Erziehenden erwachsen. Es ist auch nicht die Aufgabe des Erziehers, Antworten auf die Probleme zu geben, sondern den Schülern zu helfen, eine Form des kritischen Denkens (oder der Bewusstseinsbildung) zu erreichen, die es ihnen ermöglicht, die Gesellschaft als veränderbar aufzufassen. Wenn es den Schülern möglich wird, die Welt als eine transformierbare Grenzsituation zu erfahren, statt sie zu einem unvorstellbaren und unentrinnbaren Geschick zu verdinglichen, vermögen sie es, sich eine neue und andere Wirklichkeit vorzustellen...

Dies setzt voraus, dass die Fetischisierung des Wissens als eines elitären Wissens überwunden wird zugunsten eines Wissens, zu dem Schüler wie Lehrer vermittels ihrer gemeinsame hergestellten Beziehung gemeinsam gelangen. Menschliche Beziehungen sind, mit anderen Worten, selbst schon pädagogisch gehaltvoll. Dieses produktive Verständnis von Dialog, Kommunikation und sogar (pädagogischem) Eros wird in Freires Rede von der "bewaffneten Liebe" deutlich, die mehr als ein guter Wille oder bloßes Gefühl sein will, sondern vielmehr die Bereitschaft des Lehrers enthält, in den gemeinsamen Kampf zur Überwindung des bestehenden Unterdrückungssystems einzutreten.

Die konkrete Grundlage von Freires dialogischem Erziehungs- und Bildungssystem stellt der Kulturkreis dar, in dem Schüler und pädagogischer Koordinator miteinander Leitmotive abhandeln, die im leben der Schüler von Bedeutung sind. Diese Themen, die mit Natur, Kultur, Arbeit und sozialen Beziehungen zu tun haben, werden durch das gemeinsame Forschen von Lehrern und Schülern erst entdeckt bzw. ermittelt. Sie bringen in einer offenen – anstatt der üblichen propagandistischen – Manier die grundsätzlichen Widersprüche die grundsätzlichen Widersprüche in der Welt der Schüler zum Austausch. Danach werden die Themen in kodifizierter Gestalt (üblicherweise visuelle Repräsentationen) vorgestellt und als Ausgangspunkt für den Dialog... genommen. Indem die Schüler die Repräsentationen entschlüsseln, erkennen sie sie als Situationen, in die sie selbst als Subjekte verwickelt sind...Obwohl sich dieses Kodifizierungssystem bei der Förderung der Erwachsenen-Alphabetisierung als sehr erfolgreich erwies, hat Freire immer wieder gemahnt, es nicht mechanisch anzuwenden, sondern als eine Methode der Bewusstseinsschaffung und –förderung... Der Lese- und Schreibfähigkeit kommt somit die Bedeutung einer "Selbsttransformation" zu, die eine Einstellung zur Einmischung hervorbringt. Alphabetisierungsprogramme, die Teile von Freires Methode übernehmen, aber die Politisierung – nämlich des Verständnis der Welt als einer zu transformierenden Grenzsituation – vernachlässigen, zerstören und verkehren die Alphabetisierungsbemühung. Für Freire hat echte Bildung stets eine "Praxis der Freiheit" statt eine entfremdende Einimpfung von Fertigkeiten zu sein.

Seine Bildungstheorie stellt keine einfach Methode, sondern einen gestuften Weg zu politischer Bewusstseinsbildung dar. Die Herrschaft weniger Menschen über die Mehrheit ist seiner Ansicht nach zu überwinden, damit die Humanisierung aller stattfinden kann. Autoritäre Erziehungsformen behindern die menschliche Befreiung, indem sie die Wirklichkeitsauffassung der Unterdrücker und ihre materiellen Privilegien verstärken.

Praxis – Prozess von Aktion und Reflexion

Das Mittel zu solcher Befreiung besteht in einer Praxis oder einem Prozess von Aktion und Reflexion, der die Realitäten benennt und zugleich darauf gerichtet ist, sie zu verändern...

Diese dialektische Einheit bringt seine Formulierung zum Ausdruck: "Ein wahres Wort auszusprechen bedeutet, die Welt zu verändern."

Die pädagogische Arbeit Freires stellt auch den Versuch eines großen politischen Denkers dar, sich eine realisierbare und demokratische sozialistische Revolution vorzustellen. Die Aufmerksamkeit, die wir Freires Beitrag auf pädagogischem Gebiet zukommen lassen, sollte den Anteil seines Werkes an der revolutionären antiimperialistischen Anstrengung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verdecken...So ist die Befreiungspädagogik Freires vom ersten Augenblick an damit verbunden, innerhalb dieser Spaltung des sozialen Feldes Partei zu ergreifen, eine Wahl zu treffen, ein Bündnis einzugehen, das eigene Los mit dem der Unterdrückten zu verknüpfen...Die Unterdrückten werden nicht durch irgendwelche undefinierbaren, nebulösen, abstrakten oder ungreifbaren Verhältnisse ausgebeutet, überrollt und schließlich zerstört, sondern durch die sozialen Beziehungen, die die Menschen unter die Herrschaft des Kapitals zwingen...Freire lehnte elitäre und sektiererische Ansichten vom Sozialismus ab; er favorisierte dagegen eine Revolution "von unten", die auf der Arbeit autonomer Organisationen des Volkes basiert...

Die Originalität Freires besteht in seiner ...Kunstfertigkeit, verschiedene philosophische und politische Traditionen zu integrieren und ihren pädagogischen Bezug herauszuarbeiten. So inspirierte die Hegelsche Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft sein Bestreben, die Bildung von autoritären Formen zu befreien, so ermöglichte der Existentialismus Sartres und Bubers seine Beschreibung des von den Unterdrückten selbst initiierten Transformationsprozesses in einen Raum radikaler Intersubjektivität; so beeinflusste der historische Materialismus von Marx seine Auffassung von der Historizität gesellschaftlicher Beziehungen, so erinnert Freires Hervorhebung der Liebe als einer notwendigen Voraussetzung echter Bildung an die radikale Tradition der christlichen Theologie...Die menschliche Einbildungskraft... ist nach Freires Meinung zu einer radikalen und produktiven Vision fähig, die die Grenzen des Gegebenen überwindet...In dieser genuinen Fähigkeit besteht unsere Menschlichkeit, unser Menschsein, daher kann sie nicht die Gabe des Lehrers an den Schüler sein, sondern Lehrer-Schüler und Schüler-Lehrer müssen zusammenarbeiten, um die Phantasie anzuregen, Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft zu erzeugen.

Kritik

Seit ihrem ersten Bekanntwerden ist Freires Bildungstheorie von verschiedenen Seiten kritisiert worden. So waren Konservative, die einem revolutionären Projekt nicht wohl gesonnen sind, schnell dabei, es als demagogisch und utopisch abzutun... Es gab Marxisten, denen die christlichen Einflüsse in seiner Arbeit nicht gefielen und die seine Konzipierung des Alltagsbewusstseins für zu idealistisch hielten...

Durch seine... Abwendung von den... Kammern des offiziellen Wissens und seine Zuwendung zum offenen Raum von Menschlichkeit, Geschichtlichkeit und Poesie... weist Freire LehrerInnen und anderen, die sich angesichts der wachsenden Inhumanität der uns einschließenden gesellschaftlichen Ordnung verweigern, den Weg. An diesen Raum zu glauben, auch wenn ständig versucht wird, ihn zu verschließen, zu verdunkeln, zu verschütten oder aus der Welt zu schaffen, bleibt die Pflicht von wahrhaft fortschrittlich orientierten LehrerInnen. Freires Werk bleibt unverzichtbar, wenn es darum geht, das Konzept einer demokratischen und befreienden Erziehung und Bildung zu entwickeln...


Peter McLaren und Noah de Lissovoy, aus dem Amerikanischen von Erika Richter

In: Tenorth H.E. Klassiker der Pädagogik, Band 2, München 2003 (gekürzter Artikel)


Kurzporträt und Chronologie aus einem Nachruf

Geboren am 19.9.1921 in Recife (Nordosten Brasilien) unter dem Namen Paulo Reglus Neves Freire

1928

aufgrund der Weltwirtschaftskrise, Umzug mit der Familie nach Joboatao. Als Paulo Freire 13 Jahre alt war, starb der Vater und für eine ganze Reihe von Jahren regierte der Hunger in Paulo Freires Leben. "In der Schule konnte ich das Vierer-einmaleins nicht, kannte auch nicht die Hauptstadt Englands, ich kannte aber die Geographie des Hungers..." Mit grosser Anstrengung gelang es ihm, ein Jurastudium zu absolvieren.

1944

Heirat mit Elza Maria Oliviera, einer Grundschullehrerin. Von ihr wurde er angeregt, sich intensiv mit erziehungswissenschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen.

1946

Arbeit als Lehrer für portugiesische Sprache in der Abteilung für Erziehung und Kultur im Sozialdienst der Industrie, später dort als Direktor für den Bundesstaat Pernambuco tätig.

1956

verliess Freire sein Amt im Sozialdienst der Industrie teils wegen Unstimmigkeiten mit der Unternehmensseite bezüglich seiner demokratischen Arbeitsmethode, teils weil ihm die Grenzen der assistenzialistischen Hilfe bewusst wurde.

1961

startete eine von Freire konzipierte Alphabetisierungskampagne in Brasilien auf nationaler Basis. Der damalige Präsident Goulart ordnete an, dass mit Freire's Methode in "20.000 Kulturzirkeln" 2 Millionen Erwachsene alphabetisiert werden sollten..

1964

Staatsstreich durch die Militärs, Freire musste 75 Tage ins Gefängnis und dann ins Exil. In der Folgezeit arbeitete er u.a. 4 Jahre in Chile (Agrarministerium, Fortbildung für landlose Baürn) und ein Jahr an der Universität in Harvard (USA) als Gastprofessor.

1971

übernahm er beim Oekumenischen Rat der Kirchen in Genf die Stelle als Berater für Bildungsfragen in den "Entwicklungsländern". In dieser Zeit war er in vielen Ländern (spez. in Sao Tomé und Principe, Mozambik, Angola, Nicaragua) tätig.

1980

nach der Demokratisierung in Brasilien die Erlaubnis zur Rückkehr aus dem Exil. Dort Mitarbeit u.a. im Rahmen der Erzdioezese Sao Paulo (Kardinal Arns), an der Kath. Universität (PUC), sowie ab 1989 als Stadtrat für Erziehungsangelegenheiten in Sao Paulo.

1991

trat Freire von diesem Posten zurück, um wieder mehr im Bereich der wissenschaftlichen und beraterischen Arbeit tätig zu sein.

1994

hatten wir Paulo Freire und seine zweite Frau, die Historikerin Ana Maria Freire in München zu Gast. Zu seinem zentralen Thema "Verantwortung in der dritten und ersten Welt übernehmen":*


"Die an mich oft gerichtete Frage oder Feststellung lautet:" "Paulo, Du bist ja schon ein interessanter Mensch. Auch Dein Diskurs ist schoen, aber Du sprichst nicht von unserer Wirklichkeit. Wir, in der Ersten Welt, haben nichts mit dieser Bewusstseinsbildung zu tun." Hinter solchen Feststellungen oder Fragen verbirgt sich in Wirklichkeit die Angst davor, die Dritte Welt in der Ersten Welt zu entdecken.


Es ist die Angst davor, die Verantwortung für die ungerechte Weltordnung zu übernehmen, "anzunehmen". Es ist das Schuldgefühl, Erst- Weltler zu sein. Dieses Schuldgefühl sollte abgelegt, am besten auf den Müllhaufen geworfen werden. Keine Angst vor der Freiheit zu haben, das ist notwendig. Ich spreche von Pädagogik, der Wissenschaft der Erkenntnis, von Politik etc. und ich glaube nicht, dass alle diese Bereiche, über die ich spreche, dass es diese Bereiche in der "1. Welt" nicht geben soll.

Ich spreche genau von dieser pädagogischen Beziehung zwischen den Menschen und ich glaube nicht, dass diese pädagogische Beziehung zwischen den Menschen der "1. Welt" nicht stattfindet. Das ist also die "Angst vor der Freiheit" von den "Erst-WeltlerInnen". Ich sage Euch aber auch, dass ich Angst vor der Freiheit habe. Was ich aber wirklich versuche, in meinem Leben zu praktizieren, ist: die Freiheit zu lieben und nicht Angst vor ihr zu haben."

Paulo Freire hat von über 20 Universitäten die Ehrendoktorwürde erhalten.

Seine Bücher sind in 18 Sprachen weltweit übersetzt. Die wichtigsten Bücher, in denen er die Grundelemente seiner befreienden Pädagogik darlegte, waren:


Pädagogik der Unterdrückten, Reinbeck, 1973 -Manuskript 1968.

Pädagogik der Solidarität - Für eine Entwicklungshilfe im Dialog, Wuppertal, 1974

Erziehung als Praxis der Freiheit, Reinbeck 1977 (in Brasilien 1965 erschienen)

Dialog als Prinzip - Erwachsenenalphabetisierung in Guinea-Bissau, Wuppertal, 1980.

"Der Lehrer ist Politiker und Künstler - Neue Texte zur befreienden Bildungsarbeit", Reinbeck 1981

1994 erschien das Buch "Pädagogik der Hoffnung" in Englisch und Portugiesisch, eine engagierte Anwendung seiner Erziehungskonzeption auf die 90er Jahre.

Sein letztes Buch "Im Schatten des Mangobaumes" (Rio 1995) kann als Kritik am neoliberalen Wirtschaftsmodell gelesen werden. In ihm entwickelt er die Aufgaben des dialog-orientierten progressiven Pädagogen in postmodernen Zeiten.

Die Ideen Paulo Freire's wurden hier durch die 1977 gegründete Europäische Arbeitsgruppe Bewusstseinsbildung verbreitet, die sieben Mitgliedsgruppen umfasste: Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise AG_SPAK München, Centro di Animazione per 'l Autogestione Populare (Palermo / Italien), Friedensuniversität Namur (Belgien) Jugendakademie Walberberg (Bornheim- Koeln) Institut Oecuméniqü pour le Dévelopement des Peuples (Paris), Mouvement d' Animation de Base / International Ontmoetingscentrum (Hasselt / Belgien) und die Escüla Professionale Emigrati / Berufsschule der Emigrierten (Zürich).

Aus diesem Dachverband ist Anfang der neunziger Jahre in Deutschland und Belgien die Paulo-Freire-Gesellschaft e.V. München entstanden, die sich der Aufgabe stellt, die theoretischen Grundlagen der Freire-Pädagogik zu erforschen und die Praktiker mit den Forschern in Verbindung zu bringen. Zahllose Fachtagungen wurden in den verschiedenen europäischen Ländern durchgeführt.

Vor allem in Latein- und Mittelamerika hat Paulo Freire grundlegende Veränderungen in der Erwachsenenbildung bewirkt, aber auch in Afrika bildet sein Ansatz die Grundlage der bildungspolitischen Basisarbeit. Freire selbst hat längere Zeit in den ehemaligen portugiesischen Kolonien (Angola, Mozambik, Sao Tome und Principe) gearbeitet und dort einen entscheidenden Einfluss auf das Bildungssystem ausgeübt.

Heute werden die anthropologischen und pädagogischen Prinzipien der Freire-Pädagogik in Schwarzafrika in zahllosen Bildungsorganisationen angewandt. Das letzte Heft unserer Zeitschrift für befreiende Pädagogik ist diesen Projekten gewidmet.

Für Juli dieses Jahres war Paulo Freire von der UNESCO zum Weltkongress der Erwachsenenbildung nach Hamburg eingeladen, die Paulo-Freire- Gesellschaft plante eine Tagung in Loccum und Treffen mit ihm in verschiedenen Städten. Ein Sammelband mit Berichten aus der Arbeit in unseren europäischen Situationen ist für Sommer geplant. Die Universität Oldenburg wollte ihm die Ehrendoktorwürde verleihen.

Für das Wintersemester '97 hatte ihn die Harvard-Universität zur Entwicklung einer "Pädagogik für das 21. Jahrhundert" eingeladen.

ein weiterer Nachruf und Hintergründe wie "Kultur des Schweigens an der Universität": eineweltnetz.org/394.0.html (404 am 080310 dz)

Vorstand der Paulo-Freire-Gesellschaft: Fritz_Letsch (München), Prof. Dr. Manfred Peters (Namur), Heinz Schulze (München) Dr. Ilse Schimpf-Herken, Berlin (u.a.) info@paulo-freire-ges.de


Literatur

Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek Hamburg, 1973

Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit, Stuttgart-Berlin, 1974 a (Kreuz-Verlag)

Freire, Paulo: Pädagogik der Solidarität - für eine Entwicklungshilfe im Dialog, in: "Reihe friedenspolitische Konsequenzen", Bd. 2, hrsg. von K. Lefringhausen, J. Rau u. H. G. Schmidt Wuppertal, 1974 b (Hammer)

Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit, Beispiele zur Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek bei Hamburg, 1980 (1977) (Rowohlt)

Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler, Neue Texte zur befreienden Bildungsarbeit, Reinbek bei Hamburg, 1981 (Rowohlt)


Freire, Paulo; Betto Frei: Schule, die Leben heißt, Befreiungstheologie Konkret. Ein Gespräch München, 1986 (Kösel)

Bendit / Heimbuchner: Von Paulo Freire lernen, Ein neuer Ansatz für Pädagogik und Sozialarbeit, Juventa München 1977

Joachim Dabisch, Heinz Schulze (Hg.): Befreiung und Menschlichkeit. Texte zu Paulo Freire. München 1991 Mayo, Peter: Politische Bildung bei Antonio Gramsci und Paulo Freire, Perspektiven einer verändernden Praxis, Argument Sonderband Hamburg 2006

Schimpf-Herken, Ilse: Erziehung zur Befreiung. Paulo Freire und die Erwachsenenbildung in Lateinamerika Berlin, SPV, 1979 ISBN 3-88227-042-X AG SPAK Bücher München

Knauth, Schroeder (Hrsg.): Über Befreiung. Befreiungspädagogik, Befreiungsphilosophie und Befreiungstheologie im Dialog Ein Lesebuch für Einsteiger; ein Arbeitsbuch zur Reflexion über unterschiedliche befreiungsorientierte Praxen; ein Forschungsbericht.

Befreiung und interkultureller Dialog

Band I: Paulo Freire, Unterdrückung und Befreiung. Herausgegeben von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, in Kooperation mit Armin Bernhard. Waxmann: Münster 2007. 136 Seiten, 9,90 euro (Texte aus dem Zeitraum 1970-1990).

Band II: Paulo Freire, Bildung und Hoffnung. Herausgegeben von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, in Kooperation mit Armin Bernhard. Waxmann: Münster 2007. 154 Seiten, 9,90 euro (Texte aus dem Zeitraum 1991-1997).

Band III: Paulo Freire, Pädagogik der Autonomie. Herausgegeben von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, in Kooperation mit Armin Bernhard. Waxmann: Münster 2007 (im Erscheinen), 9,90 euro.


Links

  • Blog der Paulo-Freire-Gesellschaft e.V. paulo-freire-gesellschaft.blog.de ... 404 am 120517
  • Peter McLaren: Die Politik eines kritischen Multikulturalismus

http://www.widersprueche-zeitschrift.de/article671.html?PHPSESSID=2b306

.

The Paulo and Nita Freire International Project for Critical Pedagogy

> <http://coforum.de/index.php?7323> > > The Freire Project is dedicated to building an international critical > community which works to promote social justice in a variety of cultural > contexts. We are committed to conducting and sharing critical research > in social, political, and educational locations...


Freire Tagung, Berlin, 19.-21.10.2007

Paulo Freire-Gesellschaft, Berlin

http://www.pfg-berlin.org/ und arbeitet dort auch zusammen mit dem Institut, http://www.paulofreireberlin.org


Paulo Freire Zentrum, Wien

für transdisziplinäre Entwicklungsforschung und -bildung Berggasse 7 A-1090 Wien www.pfz.at



Paulo Freires Pädagogik der Befreiung: Bildung und Revolution

Diskussion / Vortrag 24.11.2011 | 19:30 Uhr bis 21:30 Uhr Neue Universität, Heidelberg Mit Prof. Gerhard Stepelfeldt


Paulo Freire (1921-1997) hat die Pädagogik der Befreiung als Theorie und Praxis der Erwachsenen-Alphabetisierung begründet. Diese Pädagogik stützt sich auf die Traditionen der sokratischen Aufklärung und der Theorie von Marx; sie wurde analog zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung entwickelt. Freire hat diese Pädagogik zuerst um 1960 in den ländlichen und städtischen Armutszonen Brasiliens, dann in zahlreichen Ländern Latein­amerikas und schließlich auch in den ehemaligen portugiesischen Kolonien Afrikas praktiziert. Wegen der Übereinstimmungen der Befreiungspädagogik mit der kritischen Theorie der Gesellschaft wurden Freires Werke auch in Europa um 1965/75 rezipiert und gewürdigt.

Die Pädagogik der Befreiung zielt auf eine Aufklärung («Bewusstmachung») über undurchschaute Herrschaftsverhältnisse und deren revolutionäre Ab schaffung. Ein Mensch, hat Freire überlegt, kann nur dann lesen und schrei ben, wenn er gegenständliche Zeichen nicht bloß in Laute zu übersetzen vermag, sondern wenn der das Gelesene und Geschriebene auch begreift. Er muß also, in der Alphabetisierung, sich seiner gesellschaftlichen Welt, die er bislang bewußtlos vorausgesetzt, deren Logik er verinnerlicht hat, durch Auf klärung und eine kritische, weltverändernde Praxis bewußt werden. So ist das Ziel der Alphabetisierung die Bildung von Menschen zu Subjekten, die sich ihrer selbst und ihrer gesellschaftlichen Welt bewußt sind.

Gerhard Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Professor am Institut für Soziologie der Universität Hamburg.

Kontakt RLS-Regionalbüro Baden-Württemberg Ludwigstr. 73a 70176 Stuttgart




Paulo Freire and informal education via infed.org

Gadotti, M. (1994) Reading Paulo Freire. His life and work, New York: SUNY Press. Clear presentation of Freire's thinking set in historical context written ... http://www.infed.org/thinkers/et-freir.htm - 18k

s.a. gadotti via books.de


Paulo Freire via Wikipedia

http://de.wikipedia.org/wiki/Paulo_Freire


100 Jahre Paulo Freire in 2021 :: #paulofreire100

ff.


Freie Schule in Erandique, Honduras

http://www.pfg-berlin.org/projekte/unterstutzung-freie-schule-erandique-honduras/27


s.a.


Was gibt Ihnen die Kraft weiterzumachen?

Ich stand vor der Entscheidung, die neue Schule zu gründen oder so weiter zu machen wie bisher. Die Situation an der staatlichen Schule hat mich krank gemacht. Jetzt fühle ich eine große Zufriedenheit bei der Arbeit und bin wieder gesund geworden. Durch die Freire-Pädagogik habe ich neue Wege in der Bildung kennen gelernt und bin vielen Menschen begegnet, die mir Mut gemacht haben. Und das Netzwerk ehemaliger Stipendiaten des „Procalidad“ – Kurses gibt mir Halt. Die Möglichkeiten an unserer Schule, den Unterricht gemeinsam mit den Schülern zu gestalten, sind sehr schön. Natürlich gibt es staatliche Kontrollen, aber wir haben Freiheiten. Zum Beispiel begehen wir den 15. September, den Tag der Unabhängigkeit, nicht wie der Staat es wünscht – in Uniformen und mit einem militärischen Aufmarsch. Im letzten Jahr haben wir am Feiertag selbst nichts gemacht und einen Tag später gab es einen Umzug in der traditionellen Kleidung der Lenca. Die Idee kam von Schülern und zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/aufbegehren-gegen-das-system/

Infos von Fritz Letsch in 03.2020

Lieber Karl,

herzlichen Dank für deinen Hinweis auf 100 Jahre Paulo Freire, den ich gerne für dein wiki ergänzen möchte:

Die Paulo Freire-Gesellschaft ist nach Berlin gezogen, http://www.pfg-berlin.org/ und arbeitet dort auch zusammen mit dem Institut, http://www.paulofreireberlin.org

Ilse Schimpf-Herken: https://vimeo.com/395543940 war im Umfeld der ersten Hamburger Freire-Seminare

Das Schweigen brechen - Ilse Schimpf-Herken war schon früh an sozialer Teilhabe interessiert. Ihre Reiseroute beginnt in Norddeutschland, von wo aus sie nach verschiedenen Auslandserfahrungen zur Unidad Popular nach Chile kommt. Dort arbeitete sie zwei Jahre als Befreiungspädagogin. Interkulturelle Erwachsenenbildung bleibt bis heute ihre Leidenschaft.

in München gibt es noch eine kleine Gruppe, um Oldenburg wohl die Kooperation http://www.freire.de/

http://www.agspak-buecher.de/Paul-Freire-Gesellschaft-Hg-Flavia-Maedche-Kann-Lernen-wirklich-Freude-machen

mit herzlichem Gruß,

Fritz Letsch Steinstr. 9, 81667 München Telefon: manchmal Mo bis Freitag, 10-16h, selten Di und Do in der DAA 089 - 544 302 – 430 Mobil: 0171 9976231 und im Büro ein Fax: 089 – 544 302 - 121 Denisstr. 1b Rgb.

Theaterpädagoge und Gestalttherapeut, politische Bildung nachhaltig zukunftsfähige Lernende Organisation entwickeln Gestalt-Coaching und Forumtheater, Supervision, Zukunftswerkstatt

http://fairmuenchen.de - www.raete-muenchen.de www.eineweltnetz.org community entwickeln Baustelle: fritz-letsch.jimdo.com aktuelle Werkstatt auf www.joker-netz.de twitter:@fritzLetsch und @raeteplenum www.facebook.com/fritz.letsch


260320 via mail



..

..

Infos im kontext

Flavia-Maedche: Kann-Lernen-wirklich-Freude-machen via AG SPAK

http://www.agspak-buecher.de/Paul-Freire-Gesellschaft-Hg-Flavia-Maedche-Kann-Lernen-wirklich-Freude-machen


Abstract

Dieses Buch liefert im ersten Teil einen Überblick über die historische und aktuelle Situation Brasiliens, zeichnet dann die wichtigsten Stationen von Leben und Werk Paulo Freires nach und beschreibt schließlich Theorie und PRaxis eines umfangreichen Schulprojekts in Brasilien.

Vorwort

In meiner mehrjährigen Praxis als Erzieherin und Lehrerin in Brasilien habe ich immer wieder gespürt, wie sehr das Lernen zum Menschsein dazugehört: Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen müssen sich die Welt und ihr eigenes Dasein lernend Stück für Stück erarbeiten und erschließen. Dies kann auf sehr verschiedene Art und Weise geschehen. In der Schule gingen die Meinungen oft weit auseinander, wenn die Frage im Raum stand, welches Lernen dem Menschen - hier vor allem den Kindern - eigentlich gerecht zu werden vermag. Mir ließ diese Frage keine Ruhe, nicht zuletzt weil ich mit meiner eigenen Erziehungspraxis häufig auf große Widerstände stieß. Deshalb begab ich mich auf die Suche nach Literatur über den Menschen als Lernenden, die mir Hilfe sein könnte für mein praktisches Bemühen, Lernen in der Schule umzusetzen. So fand ich zu Paulo Freire und seiner Erziehungskonzeption, die mich tief beeindruckt und überzeugt hat. Für Paulo Freire steht jede menschliche Handlung, auch wenn sie noch so privat erscheint, im Kontext einer sozialen und natürlichen Umwelt: Der Mensch ist, ob er will oder nicht, in jedem Augenblick seines Lebens ein zoon polittcon (Platon). Es gibt dabei zwei Möglichkeiten, in welche Richtung sein Handeln wirksam werden kann: Entweder es schafft Unterdrückung oder Befreiung!

Diese allgemeinen Aussagen zum Handeln des Menschen überträgt Paulo Freire auch auf jede erzieherische Tätigkeit: Erziehung ist immer politisch, d.h. gesellschafts- und weltbezogen. Zielt sie darauf, dem Menschen Gehorsam beizubringen, zementiert sie damit seine Unselbständigkeit. Befähigt sie ihn zu kritischem Denken und Hinterfragen, setzt sie ihn frei zur Selbst- und Weltbefreiung. Schließlich wird auch noch das Lernen selbst für Paulo Freire zu einer 'öffentlichen Angelegenheit': Lernen kann nur der, der vom Mitmenschen oder der Welt etwas entdeckt und aufnimmt. Entscheidend ist, wie er dabei seiner Umwelt gegenübertritt: Ein Bestreben, alles Wahrgenommene in ein definitives System einzuordnen, läßt Mensch und Natur nicht zur Entfaltung kommen. Die Bereitschaft, sich im Lernen betreffen und verändern zu lassen, entläßt auch die Welt in den Prozeß einer befreienden Entwicklung. Als Konsequenz aus den oben beschriebenen Einsichten streicht Paulo Freire aus dem Bezugsfeld des menschlichen Handelns den Begriff Neutralität und setzt dafür einen neuen ein: Intersubjektivität. Sie verwirklicht sich, wo Menschen Unterdrückung beenden und Befreiung schaffen. Dieser Begriff der Intersubjektivität ist es, um den die ganze vorliegende Arbeit kreist, ohne ihn an einer Stelle ausdrücklich zu definieren. Er beinhaltet nach Freire das Ziel allen Handelns und allen Lehrens und ist deshalb selbst nur prozeßhaft zu erschließen. Dazu muß man bereit sein, die Welt und den Menschen einmal mit den Augen Freires zu betrachten, ohne gleichzeitig diese Sichtweise übernehmen zu müssen. Das wird in dieser Arbeit versucht, und zwar unter dem speziellen Blickwinkel der Umsetzung seines pädagogischen Konzeptes für die (Grund-) Schule. Die Ausführungen können nicht unter dem Anspruch stehen, diese Pädagogik und das dahinterstehende Weltverständnis vollständig zu erfassen, weil ein solcher Anspruch ein geschlossenes Systemdenken voraussetzt, das nicht mit den Überzeugungen Freires - genauso wenig wie mit den meinigen - in Einklang zu bringen ist. Vielmehr soll exemplarisch dargestellt werden, was Paulo Freire in Theorie und Praxis erkannt und verarbeitet hat. Die Auswahl ist ohne Zweifel auch von meinen eigenen subjektiven Erfahrungen und Gefühlen beeinflußt, nicht zuletzt deshalb, weil ich in vielen Einsichten Freires mein Lebensempfinden widergespiegelt sah.

Paulo Freire betrachtet die Welt, insbesondere die Realitäten in seinem Heimatland Brasilien, aus der Sicht der Unterdrückten. Eine Erklärung dafür liefert der Blick in die Geschichte Brasiliens (bzw. Lateinamerikas): Sie erzählt vom Elend unzähliger Menschen, die über Jahrhunderte hinweg bewußt und systematisch von anderen Menschen in Unfreiheit und Abhängigkeit gehalten wurden und werden. Und sie zeugt davon, wie sehr auch ein entsprechendes Erziehungs- und Bildungskonzept mit daran beteiligt war und ist. Von dieser schier unbeschreiblichen Not und Ungerechtigkeit handelt das erste Kapitel dieser Arbeit. Wer sich ihr öffnet, beginnt Freire in seinem Kampf für die Zu-kurz-Gekommenen zu verstehen.

Daß es in dieser Welt auch eine andere Realität, ein befreites und befreiendes Leben geben kann, davon möchte das vierte und letzte Kapitel dieser Arbeit berichten. Es ist eine Welt, an der Freire maßgeblich mitgearbeitet und gebaut hat. In der Mitte der Arbeit (Kapitel 2 und 3) steht Freire selbst, sein Leben, sein Wirken und sein Denken, die geprägt sind vom pausenlosen Einsatz zur Veränderung der Welt: Heraus aus der Realität der Unterdrückung hinein in eine Welt der Freiheit und ein Leben in kreativer Intersubjektivität.

Paulo Freire hat sich keineswegs gegen jegliche Systematisierung ausgesprochen, spricht ihr im Gegenteil immer wieder eine hohe Bedeutung für alles Lernen zu. Leider hat er seine eigenen Ideen in seinen Büchern nicht sehr systematisch entfaltet, was für diese Arbeit durchaus als erschwerend empfunden wurde. Viele seiner Schriften beinhalten nichts anderes als Dialoge, die er mit wechselnden Partnern geführt hat.

Schwerpunktmäßig beziehe ich mich in meiner Arbeit auf die ins Deutsche übersetzte Literatur Freires und die neuesten Werke, die im Portugiesischen erschienen sind. Zur deutschsprachigen Literatur über Freire ist zu sagen, daß seine Rezeption seit Anfang der siebziger Jahre nur sehr schleppend in Gang kam und sich eigentlich -abgesehen von einigen städtischen Projekten, die seine Ideen auf die Arbeit mit Ausländern anwendeten -weitgehend auf kirchliche Kreise beschränkte, die seine Gedanken für theologische Neuansätze fruchtbar zu machen suchten. Bei Vertretern allgemeiner schulischer Erziehungs- und Bildungskonzepte findet man seine pädagogischen Ansätze nach wie vor kaum diskutiert, man hält sie für nicht auf deutsche bzw. europäische Verhältnisse übertragbar. Außerdem steht sein Name meist für die Alphabetisierungsarbeit mit Erwachsenen und damit für eine hier nicht mehr aktuelle Problematik. Nach Joachim Dabisch erfahren Freires Überlegungen im deutschsprachigen Raum eine Einschränkung, die völlig ungerechtfertigt ist, hat sich doch gezeigt, daß "überall dort, wo Möglichkeiten zur Anwendung der Gedanken Paulo Freires bestehen, sich neue Qualitäten der Wissensaneignung entwickeln." (Dabisch, 1987, S. 9) Etwas anders stellt sich die Situation in Nordamerika dar: Nicht zuletzt wohl aufgrund der sich verschärfenden sozialen Spannungen in den USA gibt es mittlerweile einige Universitätsprofessoren, die in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht auf Freire zurückgreifen, so z.B. Ira Shor (für die Anwendung seiner Pädagogik im Hochschulbereich), Henry Giroux (im Bereich der Pädagogik als revolutionäre Erziehungspraxis) oder Peter McLaren (Freire in der Postmoderne).

Meines Erachtens wird Freire nicht nur in Europa zu wenig in der Erziehungswissenschaft berücksichtigt. Bedenkt man, daß ein Drittel der Weltbevölkerung Analphabeten sind und Paulo Freire eine Methode entwickelt hat, die Menschen innerhalb eines minimalen Zeit- und Finanzaufwands zum Lesen- und Schreibenkönnen verhilft, kann man eigentlich nur mit handfesten machtpolitischen Interessen erklären, daß seine Methode nicht großräumig zum Einsatz kommt. Zu den von mir benutzten Hilfsmitteln sei noch angemerkt: Alle Interviews, die in diesem Buch erwähnt werden, wurden von mir selbst durchgeführt.

Statt eines ausführlichen Schlußwortes findet sich am Ende dieses Buches ein Zitat von Freire, das in seiner Unabgeschlossenheit und Offenheit für die Zukunft treffend zum Ausdruck bringt, wie diese Arbeit entstanden ist und welches Ergebnis sich mit ihr verbindet. Lernen ist ein Prozeß, der erst mit dem Ende des Lebens zu einem Abschluß gelangt.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Geschichtlicher Hintergrund einer Gesellschaft / 1.1. Vergessene Ereignisse / 1.1.1. Die Frage nach der Entdeckungszeit /1.2. Die Eroberung Brasiliens / 1.2.1. Das ökonomische Interesse der Kolonisatoren / 1.3.Brasilien als Kolonie (1500-1822) / 1.3.1. Die brasilianische Ökonomie in der Kolonialzeit / 1.3.2. Das Indiobild in der europäischen Kultur / 1.3.3. Die Einwanderer / 1.3.4. Gesellschaftsstruktur und Arbeitsteilung / 1.3.5. Die Schule im Kolonialstaat / 1.4. Brasilien als Königreich (1808.bis 1889) / 1.4.1. Die Gesellschaft im Königreich / 1.4.2. Brasiliens Unabhängigkeitsbestrebungen / 1.4.3. Perspektiven in Politik und Wirtschaft während der imperialen Zeit / 1.4.4. Entwicklungen im Bildungsbereich / 1.5. Brasilien als Republik in den Jahren 1889 bis 1929. / 1.5.1. Die Lebenssituation der armen Bevölkerung / 1.5.2. Die gesellschaftlichen Strukturen: Bildung und Arbeit / 1.5.3. Die Weltwirtschaftskrise und das Ende der Ersten Republik / 1.5.Die Zweite Republik (1930-1954) / 1.6 1. Populismus und Bildungspolitik / der Regierung Vargas / 1.7. Eine beschleunigte Industrialisierung oder '50 Jahre in 5' 5 / 1.7. 1. Der Fünfjahresplan / / 1.7.2. Entwicklung eines sozialen Bewußtseins: Identität oder Nationalismus? / 1.7.2.1. Die Erklärung der ökonomischen Abhängigkeit und die Dependenztheorie / 1.7.2.2. Die Theologie der Befreiung / 1.7.2.3. Reformimpulse von ländlichen und städtischen Arbeiterbewegungen / 1.7.2.4. Die schulischen Rahmenbedingungen / 1.8. Das Eingreifen des Militärs im Jahre 1964 / 1.8.1. Ein instrumentalisiertes Bildungssystem 2. Paulo Freire: Biographisches und Historisches im Blick auf sein reformerisches Wirken / 2. 1. Freires Kindheit und Jugendzeit / 2.1.1. Der Schwarze Freitag in Freires Kindheit / 2.2. Die informelle Erzieherin / 2.3. Die Alphabetisierungsmethode / 2.4. Ausweisung und Exilzeit / 2.5. Der Anti-Dialog als moderne Entwicklungspolitik / 2.5.Auf dem Weg zum neokolonialen Industriestaat 3. Freires Anthropologie - seine Konzeption von Erziehung und Bildung / 3.1. Der Mensch und die Umwelt - Erziehung als Praxis der Freiheit / 3.2. Die Sprache als Kommunikationsgrundlage im Erkenntnisprozeß / 3.3. Der Dialog als Intersubjektivitätsprinzip / 3.4. Die Intersubjektivität im Erkenntnisprozeß / 3.5. Erkenntnis als Bewußtsein / 3.5.Erkenntnistheorie als Befreiungstheorie / 3.6 1. Erkenntnis und Wissenschaft / 3.6 2. Erkenntnis und handlungsleitendes Interesse / 3.7. Die Entwicklungen in der Schule und die Bildungskonzeption von Paulo Freire / 3.7.1. Das Schulversagen / 3.7.2. Die Schule und ihre Bündnisse / 3.7.3. Die Lehrmethode der Be-Lehrung / Exkurs: Lernen im positivistischen Denken 4. Von der Pädagogik der Unterdrückung zur Pädagogik der Befreiung /4.1. Von der Not über die Veränderung hin zum Neuen Denken / 4.1.1. Freires Grundthese / 4.1.2.Schulverbesserung oder Schulveränderung? / 4.1.3. Die Methodologie der Erkenntnis / 4.1.4. Die Situation in Brasilien / 4.2. Das Schulprojekt von West-Parana / 4.2.1. Die Vorgeschichte / 4.2.2. Die erste Phase / 4.2.3. Die zweite Phase / 4.2.4. Die Erschließung der Lerninhalte mittels Kodierung und Dekodierung der Alltagsrealität / 4.2.5. Das neue fächerübergreifende Lesebuch / 4.2.5.Die neue Methode des Lernens / 4.2.7. Zur Umsetzung der Methode / 4.2.8. Impulse aus der Praxis / 4.2.8.1. Vom Urteilen zum Hinhören / 4.2.8.2. Der Lehrer und die Last der überkommenen Pädagogik / 4.2.9. Kritische Anmerkungen zum Schulprojekt von West- Parana / 4.2.9.1. Die neue Methode des Lernens in ihrem Entstehungsprozeß / 4.2.9.2. Das neu entwickelte Lesebuch / 4.2.9.3. Die Methode und ihre Ausführung / 4.3. Demokratie und Schulpraxis in Sao Paulo / 4.3.1. Ansätze einer demokratischen Politik / 4.3.2. Eine demokratische curriculare Schuldiskussion / 4.3.3. Die Aktionsforschung in den Gemeinden / 4.3.4. Die Problernatisierung der Lehrpraxis mithilfe einer beständigen Fortbildung / 4.3.5. Der curriculare Lehrplan / 4.3.5.Die Ergebnisse des Projektes im Vergleich zu West- Parana Schlußwort / .Literaturverzeichnis / Anmerkungen

Autorin

Dr. phil., geb. 1949 in Lajeado, Brasilien. Studium in Brasilien und Deutschland. Lehrerin und Diplom-Pädagogin. Langjährige Tätigkeit in Brasilien in verschiedenen Praxisfeldern: Lehrerin in der Erwachsenenbildung (Alphabetisierung) - Gründerin und Leiterin eines Kindergartens - Religionslehrerin - Schulrätin für einen Landkreis - Pädagogische Supervisorin bei einem großangelegten, nach Grundsätzen Paulo Freires konzipierten Schulprojekt in West-Parana, dessen Theorie und Praxis u.a. in diesem Buch beschrieben wird,


Renate Schüssler: Schulentwicklung und das Menschenrecht auf Bildung. Diss. 2007

Herausforderungen im Kontext von Armut, Chancenungleichheit und neoliberaler Gouvernementalität am Beispiel Peru, OKO Verlag, FFM 2007 Wer sich, sei es innerhalb seines solidarischen Engagements, Menschenrechtsarbeit oder entwicklungspolitischer Zusammenarbeit mit Peru beschäftigt, tut gut daran, sich mit Bildungsfragen zu beschäftigen. Zu diesem Thema veröffentliche Renate Schüssler ihre Dissertation ...


Emanzipatorisch, sozialistisch, kritisch, links?

Zum Verhältnis von (politischer) Bildung und Befreiung===

9,90€ Karl-Dietz-Verlag

Zum Inhalt:

> > Janek Niggemann, Andreas Merkens: Macht Herrschaft überflüssig! Anregungen > Antonio Gramscis für kritische Bildung und Erziehung

> > Carsten Krinn > »...der Klassenkampf erlaubt selten die Anstellung eines Schwimmlehrers«. > Zwischen Emanzipation und Edukationismus: > Lehren aus der Schulungsarbeit der Weimarer KPD

> > David Salomon > Bertolt Brechts politische Didaktik oder: > Die Quadriga von Pädagogik, Ästhetik, Philosophie und Politik

> > Torsten Feltes > Die kritische oder dialektische Bildungstheorie

> > Marco Hahn > Paulo Freire: Bewusstwerdung ermöglichen

> > Julika Bürgin > Oskar Negt, die soziologische Phantasie und das > exemplarische Lernen in der Arbeiterbildung

> > Marit Baarck > So-und-auch-anders-Können. > Was lässt sich aus der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie Klaus > Holzkamps für linke emanzipatorische > politische Bildung ableiten?

> > Bernd Wittich > Emanzipatorische politische Bildung: > Social Justice und Martin Bubers Dialogik >

Meine Werkzeuge