Bibliothek im Eis

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(== 20 Jahre Bibliothek im Eis in 2025== Kategorie:VAB)
(Amartya Sen: Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit erschienen am 16. Oktober 2020 C.H. Beck Verlag)
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http://www.hausderwissenschaft.de/Bibliothek_im_Eis.shtml
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Am 20. Januar 2005 wurde ein ungewöhnliches Kunstprojekt in der
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> Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung wurde ein
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> Container, der real als Bibliothek nutzbar ist, mit 1.000 Büchern
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> Fritsch ausgewählte Künstler und Wissenschaftler ein Buch zu stiften
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> von dem sie glaubten, dass die neun Wissenschaftlerinnen und
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> Wissenschaftler, die in der Neumayer-Station überwintern es unbedingt
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Am vergangenen Sonntag bekam der in den USA lebende indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Sein großes Thema ist die Gerechtigkeit. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Forschungen zu Wohlfahrtsökonomie und wirtschaftlicher Entwicklung.
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„Die Welt teilen – Sechs Lektionen über Gerechtigkeit“ ist nun pünktlich zur Verleihung des Friedenspreises erschienen und versammelt Essays, die einführenden Charakter haben. Wie in seinen bereits vorliegenden Werken nimmt Sen darin immer wieder Bezug auf eine seiner zentralen Thesen, die besagt, dass wirtschaftlicher Wohlstand, der zentral für die traditionelle Ökonomie ist, im Bezug auf soziale Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit keinerlei Aussagen ermögliche. Ein reicher Staat muss nicht automatisch ein gerechter Staat sein. Bestes Beispiel dafür ist Sens Heimatland Indien. In zwei Essays (zu den Themen Hunger und Bildung) erklärt er, wie „gewaltige Lebensmittelberge und massive Unterernährung“ die Ernährungssituation prägen können: „Manchmal neigen gerade die Einrichtungen, die alte Hindernisse überwinden sollten, dazu, reaktionäre Wirkungen zu entfalten, die Ungleichheit und Not noch steigern. […] 1998 hatte die Zentralregierung etwa 18 Millionen Tonnen Getreide zur Lebensmittelversorgung eingelagert – fast so viel, wie die offizielle Regelung für eine „Sicherheitsreserve“ vorschreibt, um bei möglichen Schwankungen von Produktion und Nachfrage ausgleichend zu wirken. Seitdem sind die Reserven immer weiter gewachsen, stiegen weit über die 50-Millionen-Tonnen-Marke und liegen laut aktuellen Berichten bei über 62 Millionen Tonnen. Um Jean Drèzes eindrücklichen Vergleich zu verwenden: Aneinandergereiht wären die Getreidesäcke über eine Million Kilometer lang und würden einmal zum Mond und wieder zurück reichen.“ (18) Das Problem ist nur, dass das Getreide die unterernährten Menschen in Indien nicht erreicht, da nicht deren Interessen, sondern diejenigen der Agrarunternehmen, die natürlich eine sehr viel stärkere Lobby haben, gewahrt werden. Der Getreidepreis müsste massiv sinken, um auch den Ärmsten einen Zugang zu diesem Lebensmittel zu ermöglichen. Doch das ist politisch nicht gewollt. Welche Rolle Unterernährung in Indien immer noch spielt, war mir nicht bewusst – dort gibt es die „größte Ansammlung unterernährter Menschen weltweit“. Die Situation ist deutlich schlimmer als in den subsaharischen Ländern, die am häufigsten mit Unterernährung assoziiert werden. Auch die weitreichenden Folgen, die Unterernährung zum Beispiel für Mütter und ihre Kinder hat, erklärt Sen in seinem ersten Essay zum Thema Hunger.
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In der zweiten Lektion geht es um Medien und die Pressefreiheit, die ein integraler Bestandteil rechtsstaatlicher Gesellschaften, die Gerechtigkeit als Wert vertreten, sind. Hierbei widmet sich Sen vor allem den Funktionen der Pressefreit: dem „intrinsische[n] Wert der Redefreiheit und öffentlichen Kommunikation“, der Informations- sowie der Schutzfunktion und der Veröffentlichung konstruktiver Beiträge „zur öffentlichen Diskussion, indem sie Ideen vorstellt, zur Bildung von Werten beiträgt und gemeinsame öffentliche Standards etabliert“ (35).
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Im dritten Kapitel setzt Amartya Sen sich mit dem Thema Bildung auseinander – und in diesem Zusammenhang erneut mit dem Problem der Unterernährung, dem etwa mit Schulspeisungen begegnet werden könnte.
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Lektion vier ist der „wechselseitigen Abhängigkeit und globalen Gerechtigkeit“ gewidmet, wobei der Autor klar für eine globale (und nicht eine nationale) Ausrichtung plädiert.
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Im umfangreichsten Kapitel geht es um „Armut, Krieg und Frieden“ – hier erörtert Sen geläufige Missverständnisse im Hinblick auf das Konzept der Identität, das nicht als Trennlinie genutzt werden sollte, um Gewalt zu erzeugen. Vielmehr sollte es stets darum gehen, das Ganze multiperspektivisch zu sehen – ein Mensch ist nicht nur religiös oder ethnisch definiert, sondern vereint zahlreiche Identitäten in sich. Auch bei der Analyse von Gewalt und ihrer Entstehung müsse es immer darum gehen, sämtliche Aspekte (wirtschaftlich, sozial, kulturell) zusammenzuführen und so ein Gesamtbild zu kreieren, das verlässlichere Aussagen zulässt als gängige Thesen wie „Armut und Gewalt hängen zusammen“, was übrigens so nicht zutrifft.
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Der letzte Essay ist am literarischsten. Amartya Sen äußert darin der „Göttin der Mittelgroßen Träume“ gegenüber sieben Wünsche, die zu einer Verbesserung der sozialen Lage in Indien beitragen sollen. Einer dieser Wünsche lautet: „Geisteswissenschaften und humanistische Fächer sollen wieder eine größere Rolle im indischen Bildungssystem spielen.“ (111)
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„Die Welt teilen“ ist das zweite Buch, das ich von Amartya Sen lese. Vor vielen Jahren las ich „Die Idee der Gerechtigkeit“, ein umfangreicheres und deutlich fundierteres Werk, das mit der vorliegenden Essaysammlung natürlich nicht verglichen werden kann. Der schmale Band, der anlässlich der Verleihung des Friedenspreises erschienen ist, hat eher einführenden Charakter und eignet sich damit gut als Einstieg in das Denken des Ökonomen und Philosophen. Wer also noch nicht viel über Sen weiß und sich einen raschen Überblick verschaffen möchte, findet hier die richtige Lektüre.
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Amartya Sen: Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit
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erschienen am 16. Oktober 2020
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C.H. Beck Verlag
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2110 via fb

Version vom 21. Oktober 2020, 04:25 Uhr

Bibliothek im Eis seit 2005

http://www.hausderwissenschaft.de/Bibliothek_im_Eis.shtml

Am 20. Januar 2005 wurde ein ungewöhnliches Kunstprojekt in der Antarktis eingeweiht.

In der Nähe der Neumayer-Station des > Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung wurde ein > Container, der real als Bibliothek nutzbar ist, mit 1.000 Büchern > ausgestattet.

Im Sinne des Dialogs von Kunst und Wissenschaft bat > Fritsch ausgewählte Künstler und Wissenschaftler ein Buch zu stiften > von dem sie glaubten, dass die neun Wissenschaftlerinnen und > Wissenschaftler, die in der Neumayer-Station überwintern es unbedingt > gelesen haben sollten.

Die Bücher wurden mit dem jeweiligen Namen der > Stifter versehen. Jeder Stifter hat seine Buchwahl zusätzlich mit einem > Statement im Buch begründet.


20 Jahre Bibliothek im Eis in 2025


Wichtiges in Bibliotheken

Am vergangenen Sonntag bekam der in den USA lebende indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Sein großes Thema ist die Gerechtigkeit. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Forschungen zu Wohlfahrtsökonomie und wirtschaftlicher Entwicklung.

„Die Welt teilen – Sechs Lektionen über Gerechtigkeit“ ist nun pünktlich zur Verleihung des Friedenspreises erschienen und versammelt Essays, die einführenden Charakter haben. Wie in seinen bereits vorliegenden Werken nimmt Sen darin immer wieder Bezug auf eine seiner zentralen Thesen, die besagt, dass wirtschaftlicher Wohlstand, der zentral für die traditionelle Ökonomie ist, im Bezug auf soziale Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit keinerlei Aussagen ermögliche. Ein reicher Staat muss nicht automatisch ein gerechter Staat sein. Bestes Beispiel dafür ist Sens Heimatland Indien. In zwei Essays (zu den Themen Hunger und Bildung) erklärt er, wie „gewaltige Lebensmittelberge und massive Unterernährung“ die Ernährungssituation prägen können: „Manchmal neigen gerade die Einrichtungen, die alte Hindernisse überwinden sollten, dazu, reaktionäre Wirkungen zu entfalten, die Ungleichheit und Not noch steigern. […] 1998 hatte die Zentralregierung etwa 18 Millionen Tonnen Getreide zur Lebensmittelversorgung eingelagert – fast so viel, wie die offizielle Regelung für eine „Sicherheitsreserve“ vorschreibt, um bei möglichen Schwankungen von Produktion und Nachfrage ausgleichend zu wirken. Seitdem sind die Reserven immer weiter gewachsen, stiegen weit über die 50-Millionen-Tonnen-Marke und liegen laut aktuellen Berichten bei über 62 Millionen Tonnen. Um Jean Drèzes eindrücklichen Vergleich zu verwenden: Aneinandergereiht wären die Getreidesäcke über eine Million Kilometer lang und würden einmal zum Mond und wieder zurück reichen.“ (18) Das Problem ist nur, dass das Getreide die unterernährten Menschen in Indien nicht erreicht, da nicht deren Interessen, sondern diejenigen der Agrarunternehmen, die natürlich eine sehr viel stärkere Lobby haben, gewahrt werden. Der Getreidepreis müsste massiv sinken, um auch den Ärmsten einen Zugang zu diesem Lebensmittel zu ermöglichen. Doch das ist politisch nicht gewollt. Welche Rolle Unterernährung in Indien immer noch spielt, war mir nicht bewusst – dort gibt es die „größte Ansammlung unterernährter Menschen weltweit“. Die Situation ist deutlich schlimmer als in den subsaharischen Ländern, die am häufigsten mit Unterernährung assoziiert werden. Auch die weitreichenden Folgen, die Unterernährung zum Beispiel für Mütter und ihre Kinder hat, erklärt Sen in seinem ersten Essay zum Thema Hunger. In der zweiten Lektion geht es um Medien und die Pressefreiheit, die ein integraler Bestandteil rechtsstaatlicher Gesellschaften, die Gerechtigkeit als Wert vertreten, sind. Hierbei widmet sich Sen vor allem den Funktionen der Pressefreit: dem „intrinsische[n] Wert der Redefreiheit und öffentlichen Kommunikation“, der Informations- sowie der Schutzfunktion und der Veröffentlichung konstruktiver Beiträge „zur öffentlichen Diskussion, indem sie Ideen vorstellt, zur Bildung von Werten beiträgt und gemeinsame öffentliche Standards etabliert“ (35). Im dritten Kapitel setzt Amartya Sen sich mit dem Thema Bildung auseinander – und in diesem Zusammenhang erneut mit dem Problem der Unterernährung, dem etwa mit Schulspeisungen begegnet werden könnte. Lektion vier ist der „wechselseitigen Abhängigkeit und globalen Gerechtigkeit“ gewidmet, wobei der Autor klar für eine globale (und nicht eine nationale) Ausrichtung plädiert. Im umfangreichsten Kapitel geht es um „Armut, Krieg und Frieden“ – hier erörtert Sen geläufige Missverständnisse im Hinblick auf das Konzept der Identität, das nicht als Trennlinie genutzt werden sollte, um Gewalt zu erzeugen. Vielmehr sollte es stets darum gehen, das Ganze multiperspektivisch zu sehen – ein Mensch ist nicht nur religiös oder ethnisch definiert, sondern vereint zahlreiche Identitäten in sich. Auch bei der Analyse von Gewalt und ihrer Entstehung müsse es immer darum gehen, sämtliche Aspekte (wirtschaftlich, sozial, kulturell) zusammenzuführen und so ein Gesamtbild zu kreieren, das verlässlichere Aussagen zulässt als gängige Thesen wie „Armut und Gewalt hängen zusammen“, was übrigens so nicht zutrifft. Der letzte Essay ist am literarischsten. Amartya Sen äußert darin der „Göttin der Mittelgroßen Träume“ gegenüber sieben Wünsche, die zu einer Verbesserung der sozialen Lage in Indien beitragen sollen. Einer dieser Wünsche lautet: „Geisteswissenschaften und humanistische Fächer sollen wieder eine größere Rolle im indischen Bildungssystem spielen.“ (111) „Die Welt teilen“ ist das zweite Buch, das ich von Amartya Sen lese. Vor vielen Jahren las ich „Die Idee der Gerechtigkeit“, ein umfangreicheres und deutlich fundierteres Werk, das mit der vorliegenden Essaysammlung natürlich nicht verglichen werden kann. Der schmale Band, der anlässlich der Verleihung des Friedenspreises erschienen ist, hat eher einführenden Charakter und eignet sich damit gut als Einstieg in das Denken des Ökonomen und Philosophen. Wer also noch nicht viel über Sen weiß und sich einen raschen Überblick verschaffen möchte, findet hier die richtige Lektüre.

Amartya Sen: Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit erschienen am 16. Oktober 2020 C.H. Beck Verlag

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