Heimrad Bäcker
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Heimrad Bäcker
Heimrad Bäcker, 1925 in Wien geboren, studierte Philosophie, Soziologie und Völkerkunde in Graz und Wien, 1993 dissertierte er über Karl Jaspers. Von 1955 bis 1976 Referent an der Volkshochschule Linz, ab 1968 Herausgeber der Zeitschrift »neue texte«, aus der 1976 der Avantgarde-Verlag »edition neue texte« hervorging. 1994 wurde letzterer vom Droschl Verlag übernommen und als Reihe fortgeführt.
In der »edition neue texte« erschienen wichtige Arbeiten von Achleitner, Czernin, Czurda, Gerstl, Jandl, Mayröcker, Rühm und Priessnitz, nicht zuletzt auch Bäckers bedeutende nachschrift (1986) und nachschrift 2 (1997).
Das Schaffen des Schriftstellers und Künstlers Heimrad Bäcker gilt als ein Hauptwerk der internationalen Avantgarde. Mit seiner umfassenden Kenntnis der Literatur und Kunst der Moderne, deren großer Förderer er war, hat Bäcker einen eigenen unverwechselbaren Ausdruck gefunden. Seine konkreten Texte und Fotografien, die das Projekt nachschrift ausmachen, schließen die Kluft zwischen formaler Autonomie und politischem Engagement. Dabei ist die nachschrift mit ihrem Zugriff auf Dokumente des Nationalsozialismus und des Holocaust Dokumentarliteratur und -kunst mit den Mitteln der konkreten Poesie.
»Was bleibt, ist die Gewissheit, dass Bäckers Kunst der noch immer zwingend erforderlichen Thematisierung des Nationalsozialismus völlig neue Aspekte zugetragen hat.« (style)
»Dass das Verbrechen der Sprache den tatsächlichen Verbrechen vorausgeht, hat Heimrad Bäcker in einem wachsenden und prinzipiell unabschließbaren Œuvre zu zeigen versucht.« (Paul Jandl, NZZ)
https://www.droschl.com/autor/heimrad-baecker/
Heimrad Bäcker - Biographie
geboren: 09.05.1925 in: Wien verstorben: 08.05.2003
1925 in Wien geboren - Studium der Philosophie, Soziologie und Völkerkunde, lebte als freier Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift "neue texte" in Linz. Das Hörspiel "Gehen wir wirklich in den Tod?" wurde mit dem Robert-Geisendörfer-Preis 1989 ausgezeichnet.
In den Jahren 1968 bis 1985 sammelte und verarbeitete Heimrad Bäcker schriftliche Zeugnisse der unbeschreibbaren "nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie": "Es genügt, die Sprache der Täter und der Opfer zu zitieren. Es genügt, bei der Sprache zu bleiben, die in den Dokumenten aufbewahrt ist. Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen". (Heimrad Bäcker) Der Hamburger Schriftsteller und Künstler Schuldt hat aus diesem Buch "Nachschrift" Texte in eine wiederum neue Ordnung gebracht und vom Autor lesen lassen. Das Dokument in einer Sprech-Ordnung, die Stimme des Autors, der sich in der "Realisierung"des Sprachmaterials um äusserste Genauigkeit und Präzision bemüht-, daraus ist ein konkret-politisches Hörwerk entstanden, von erschütternder Authentizität.
http://www.droschl.com/programm/person.php?person_id=64
Er erhielt 2001 den Würdigungspreis für Literatur.
Heimrad Bäcker war 1987 bis 1989 Präsident der GAV.
Poetik im technischen Zeitalter
Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs In: Literalität und Liminalität, 17 Herausgegeben von: Achim Geisenhanslüke und Michael Peter Hehl transcript-Verlag | 2013 DOI: https://doi.org/10.14361/transcript.9783839415986
270221 via site ... leseprobe in Q1 2021 incl. inhalt vom roman elephantenuhr
heimrad-backer-documentary-poetry
https://jacket2.org/commentary/heimrad-backer-documentary-poetry ... 030321 in dt. und engl.
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Dokumentarische Dichtung
Heimrad Bäcker
Am Beginn von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, am Beginn von Geschichte, antwortet Kain auf die Frage, wo sein Bruder Abel sei: »Bin ich der Hüter meines Bruders?« Die Mythologie überliefert, daß am Beginn von Zeit und Geschichte eine Vertauschung stattfindet: die Kainsche Sprachregelung. Eine Kategorie des Wohlverhaltens, nämlich Hüter zu sein, muß dazu dienen, seine Tat zu verbergen: Kain klammert sich noch in der Verneinung an eine ethische Kategorie und setzt sie für ein ganz anderes ein.
Die Sprache aus dem Souterrain der Geschichte, die Sprache der »Geheimen Reichssache«, ist besetzt mit Relikten aus dem überlieferten Kanon des Wohlverhaltens, mit Begriffen des versatilen Guten. Aus dem Hüter des Bruders wird der »anständig gebliebene« Heinrich Himmler, der in großem Stil morden ließ. Durch Sprachregelung, auf die auch die unteren Chargen verpflichtet wurden, wird Mord zum »Ruhmesblatt der deutschen Geschichte«. Der idealische Duktus aus dem überlieferten idealisch-humanen Arsenal zwingt zu Sprechakten des Vertauschens. Die Begriffshöfe werden unbegrenzt erweitert, ohne daß sie platzen, während in den Höhlen des Dritten Reiches geschieht, was nur in Steigerungsformen bezeichnet werden kann als das Unglaublichste und Unerhörteste.
Verfügt wurde über ein Alphabet ständig wiederkehrender Formeln, dem Muster folgend, das Reinhard Heydrich in seinem Einladungsschreiben zur Wannseekonferenz, die die »Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage« einleitete, vorlegte:
im interesse der erreichung zumal bereits in laufenden transporten über die vorausmaßnahmen alle erforderlichen vorbereitungen als weitere lösungsmöglichlkeit einer gleichen auffassung nach entsprechender vorheriger genehmigung mit dieser endlösung sozialpolitische notwendigkeiten der allfällig verbleibende restbestand unter trennung der geschlechter mit anschließendem frühstück zum gegenstand einer aussprache Am großen Wannsee Nr. 56
Im Interesse einer gleichen Auffassung wird gehandelt, dieses Kauderwelsch (hier in Bruchstücken wiedergegeben) rotiert in sich selbst als Kulmination des nicht ausgesprochenen Gemeinten (Eichmann sagte später in Jerusalem zum Begriff »Endlösung«, was er bedeutete, hätten alle Beteiligten der Konferenz gewußt), Sprache als Verwaltungs-Gewaltakt, Sprache, die ihre eigene Formelhaftigkeit reproduziert und Täter und Opfer verbirgt. Bleibe ich bei dieser Sprache, stelle ich sie in die Schrift eines Buches (und das heißt: reflektiere ich sie durch identische Verwendung, aber in literarischer Absicht), wird sie durch das Beziehungsgefüge, in dem sie nun erscheint, in einem neuen System, erkennbar als das, als was sie nicht erkannt werden wollte: als Sprache radikaler Vertauschung. Ich negiere ihre Negation, und das Ergebnis ist, sofern es gelingt, die Position des Textes in der Entlarvung. Die Hülsen ihres Sagens werden aufgelöst, das idealisch verfremdete Geschehen freigesetzt, die Attitüde festgeschrieben und die Struktur sichtbar: Kauderwelsch, das die Arsenale der überlieferten Begriffe plündert, mit ihrer Hilfe zu verführen weiß und zu Werke geht. Deutschland 1944 von Helmut Heißenbüttel war der erste, der wegweisende Text; er zeigte, wie die Vertauschung durch Zitieren aufgelöst werden kann und zurückgeführt auf die eigentliche Dimension, auf den originalen Zuschnitt, wäre dieses Original nicht bis zur Unkenntlichkeit immerzu seine eigene Kopie.
Die Textsorte Dokument wird zur Literatur durch Korrespondenz zwischen den Textteilen, die gewählt wurden. Auf eine eigenartige, auch hier wirksame Relation weist Franz Mon in seinem Aufsatz über Collagetexte und Sprachcollagen hin: daß am dichtesten zusammengehört, was am entferntesten schien, oder daß nach Max Ernst »die Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen die stärkste poetische Zündung« provoziert. Auf unser Beispiel angewendet: Die Statistik eines Versicherungsjahrbuchs mit seinen stehenden Formeln von unausgeglichenen Werten, beobachteten Toten, rechnungsmäßigen Toten, ausgeglichenen und unausgeglichenen Sterbenswahrscheinlichkeiten wird auf dem wesensfremden Plan meines Buches nachschrift, seinem »Bezugssystem« (Friedrich Achleitner), zueinander gebracht mit dem für die durchschnittliche Erfahrung nicht mehr Faßbaren, dem großen Morden, das außerhalb von Sterbenswahrscheinlichkeit liegt. Die Begriffe greifen nicht, oder nur noch in diesem Textsystem des »zündenden« Absurden.
Man könnte nachschrift und das Hörstück Gehen wir wirklich in den Tod? eine Ballung von Collagen nennen. Im Unterschiedzu anderen Collageformen wird hier ununterbrochen zitiert. Das ist keine neue Methode (oder nur im Extrem),- ich erinnere an Berlin Alexanderplatz oder an Dantons Tod: Ein Fünftel dieses Werkes von Büchner besteht aus Passagen der Prozeßakte oder der Geschichtsbücher über die französische Revolution. Die historisch-kritische Ausgabe stellt die Lesarten einander gegenüber, sie sind weithin deckungsgleich, das Zitat bestimmt die Direkt heit der Diktion-eine noch größere Nähe ist nicht denkbar.
Was geschehen ist, ist mit den Formen der Literatur, die diesseits des Schreckens entwickelt wurden, nicht zu erfassen. Und doch muß (man hat keine Wahl) eine Methode gefunden werden, die der negativen Monumentalität adäquat ist.
»Thema« ist eine Sprache, die mit ihren Zeichen auch Globocnik Abrechnung der »Aktion Reinhard« (Belzec, Sobibor, Treblinka) zur Verfügung steht. Thema ist nicht diese Abrechnung oder die »Aktion Reinhard«, sondern eine Sprache, die imstande ist, Aktion und Abrechnung zu präsentieren. Sie ist Umgangssprache, Alltagssprache, Beamtensprache, Sprache der Ideale (und ihrer Perversion), Befehlssprache und Statistik. Die Abrechnung der Aktion Reinhard hat teil an bekannten Sprachmustern. Da es mit dieser Abrechnung aber·eine besondere Bewandtnis hat, da sie nicht eine Abrechnung unter anderen ist, sondern Schlußpunkt einer Mordaktion großen Stils, ist ihre Sprache (bis in jede Ziffer gehorteter Kleider, Schmuckstücke und Valuten) mit dem Gewicht des Geschehenen beschwert: sie verweist auf die transponierten Inhalte. Ich stehe vor dem Problem, daß die Sprache imstande ist, das Undenkbare in normalsprachlichem Duktus zu formulieren und zu transportieren.
Wenn ich Dokumente zitiere, gibt es keine außerhalb des Zitats liegende Literarizität (mit Ausnahme von Reihung, Wiederholung, Aussparung; mit Ausnahme des Systems nachschrift): dies der Unterschied zum Narrativen, zur poetischen Subjektivität, zur Hörspielkulisse etc. Im Zitat kann sich Subjektivität (des Täters, des Opfers) kundtun, ohne durch Literatur gebrochen zu sein. Die Reflexion des Zitats durch den Autor geschieht durch Zitieren. Der Körper des Wortes füllt sich auf mit dem zurückgenommenen Ausgesagten.
Dokumentarische Literatur durchschneidet die Phantasiestränge, paralysiert die literarischen Willensimpulse, verweist die SekundärReflexion in den Bereich des unter anderem auch Möglichen, verneint das formulierte Entsetzen der Gedenktage, kennt keine Abnutzung, macht wieder sichtbar, was verdeckt ist durch private und öffentliche Mediokrität und ihren Hang zum Schematismus.
Literatur des Zitats als Literatur der Identität mit der nichtliterarischen Wirklichkeit (oder ihrem Schein), die selbst eine Ansammlung, eine ungeheure Klitterung von Zitaten ist. Der Autor operiert sie aus dem fluktuierenden Etwas Wirklichkeit heraus, wobei sie, wenn es gelingt, nichts an Authentizität verlieren.
Wird das Dokument aus seiner Isolierung gerissen und in die Isolierung eines formalen Prinzips gezwungen, erreicht es eine neue Wirksamkeit. Identität von Dokument und Literatur. Dokumente sind Literatur, die sich selbst schreibt und als Literatur erkannt wird. Isolierung, Verknappung, Stellung im Raum, Abfolge, Kleinschrift machen nur sichtbar, was das Dokument als Beschreibung, Bericht, Statistik identisch enthält.
1. die Sprechenden. 2. die Sprechenden im System nachschrift.
Das Phänomen konstituiert sein Gegenphänomen. Dialektik des Schmerzes und der Statistik.
Gedicht von Heimrad Bäcker: Zahlen verbergen
https://images.app.goo.gl/r4s1GX7fqQHyEr6e7
siehe auch
walter-hoellerer-archiv
https://www.literaturarchiv.de/literaturarchiv/bestaende/walter-hoellerer-archiv
nachruf auf michael hamburger
Axel Friedrich: Maschinenzoo in Lenzburg, Schweiz
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Literatur
> Ein Buch muß so sein: Du schlägst es irgendwo (belienig) > auf, um probeweise einen Satz zu lesen. Und schon kommst > Du nicht weg davon oder gibst dem Werk noch eine Chance, > sich zu offenbaren. Ein Buch hat drei Seiten Chance, wenn > du es dann weglegst, hat es verloren. Jeder satz sollte so > sein, daß er dich in den nächsten hineinzieht. Jeder Satz > müßte-weggelassen-eine Lücke hinterlassen. Kein Satz darf > dastehen, der genausogut wegbleiben könnte. Langes Gerede > stiehlt die Zeit des Lesers. Es gibt Werke, die bestehen > nur aus unnötigen Sätzen. Wenn du ein Buch gelesen hast, > mußt du nachher etwas mehr wissen als zuvor.
> Für Krimis und Bücher, welche die Zeit totschlagen sollen, > gilt das nicht.
> Janosch