Ilse-Schimpf-Herken

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Nachruf auf Ilse-Schimpf-Herken * 1947 + 6. Januar 2021

Wir trauern um unsere Kollegin, Mitstreiterin und Freundin Ilse-Schimpf-Herken, die am 6. Januar 2021 verstorben ist.

Ilse war eine außergewöhnlich starke, engagiert handelnde und einfühlsame Persönlichkeit.

Bereits seit den 1970er Jahren, anknüpfend an die kritische Sicht auf Gesellschaft und soziale Bedingungen, die sie in ihrer Kindheit von ihrer Oma und ihrem Vater gelernt und in Paris in der Student*innenbewegung vertieft hatte, setzte Ilse sich für Gerechtigkeit und die Sicht- und Hörbarkeit marginalisierter Gruppen in Deutschland und auch in besonderem Maße in Lateinamerika ein. Bald begegnete sie erst in Mexico, dann in Chile dem brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire, der ihre Sicht auf die Welt und sie selbst in der Welt entscheidend prägte. Sie arbeitete als Professorin an der TU Berlin und darüber hinaus bis zu ihrem Tod mit seinen Konzepten, Ideen und Praktiken einer dialogische Pädagogik und entwickelte sie u.a. orientiert an Prozessentwicklungen der Lernenden weiter.

Freires Ausgangspunkt für Lernen sind immer die realen Herausforderungen der Menschen, unter starker Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen und Benachteiligung. So ist es kein Wunder, dass sie mit den Pädagog*innen, die am Situationsansatz und an ihm verbundenen Ansätzen in Deutschland und der Welt arbeiteten, in Kontakt kam. In unserem Gründungspräsidenten Jürgen Zimmer und in vielen Kolleg*innen innerhalb der Internationalen Akademie fand sie Partner*innen, die in anderen Arbeitsbereichen an anderen Orten der Welt diese Grundideen teilten.

So kam Ilse Schimpf-Herken 1999 mit dem Paulo-Freire-Institut in unsere Akademie, um gemeinsam mit gleichgesinnten Personen internationale, interdisziplinäre Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekte zur Erinnerungs- und Friedenspädagogik zu realisieren.


In vielen Begegnungen in Deutschland und Lateinamerika entwickelte sie mit Studierenden, Lehrer*innen und Erzieher*innen ein einmaliges Fortbildungskonzept.

Hier kombinierte sie u.a. Gedenkstättenpädagogik mit biographischen Reflexionen und dem BoalTheater der Unterdrückten. Sie nutzte so nicht nur die verbale Kommunikation, sondern mit großer Freude für alle Beteiligten vielfältige künstlerische-ästhetische Ausdrucksformen: Tanz, Theater, Musik und bildnerisches Gestalten waren für sie gleichwertige Erkenntnis- und Ausdrucksformen. Ihre Initiativen und Aktionen verhalfen politisch schwer traumatisierten Menschen freier leben, lernen und lehren zu können. Die Originalität und Vielfalt ihrer Ideen und Vorhaben sprengte oft die Möglichkeiten der Bürokratie. So nutzte Ilse bis zuletzt mit außerordentlicher Kreativität und Willenskraft erfolgreich verschiedene Wege, um immer neue Partner*innen zu gewinnen.

Viele Monate, ja Jahre, verbrachte sie in Süd- und Mittelamerika, vor allem in Chile, und sie organisierte Studienreisen, eingebettet in Fortbildungsprogramme für Pädagog*innen aus diesen Ländern hierher, und von deutschen Pädagog*innen dorthin. So erarbeitete sie gemeinsam mit diversen Teams und den Kursteilnehmer*innen lebensweltorientierte Bildungspraktiken jeweils vor Ort. Ihre bildungstheoretischen Ansätze speisten sich aus vielen verschiedenen Quellen. In den letzten Jahren hat sie auch in Moabiter Grundschulen und Kitas an einer inklusiven Bildungspraxis mitgewirkt, in der unter Berücksichtigung ungleicher Bildungschancen und Lebenssituationen der Kinder und Familien gemeinsames Lernen und Leben zum Thema wurde. Ihr Einlassen und ihre Offenheit für den Dialog mit den Menschen konnten wir spüren, wenn sie von den vielen Stunden, die sie mit den Müttern in Elterncafés verbrachte, erzählte, wie sehr ihr Zuhören schon helfen konnte, sie mit kleinen Hilfestellungen Lebenswege zu unterstützen imstande war – und auch, wie sehr die Frauen und Kinder das Zusammensein mit ihr liebten.

Viele Begriffe ließen sich nennen, um Ilses Arbeit zu kennzeichnen: postmoderne, ko-konstruktive, poststrukturalistische, feministische, marxistische, postkoloniale und dekoloniale Theorien. Ilse hätte sich mit keinem dieser Begriffe etikettieren lassen. Sie nutzte solche und weitere Theorien für ihre Dialoge und machte daraus mit ihren Partner*innen etwas Eigenes, das sie nie ihr Eigenes, sondern immer Gemeinsames genannt hätte. Vieles summierte sie als Freire Ansätze, was aber weit über Freire hinaus reichte.

Ihre Publikationen, in denen sie ihre Erkenntnisse und Erfahrungen dokumentiert hat, sind konsequenterweise oft Sammelbände oder gemeinsam mit anderen erarbeitete Artikel. Der letzte von ihr mit herausgegebene Sammelband ist nur wenige Tage vor ihrem Tod fertig geworden - gleichsam ihr Vermächtnis.

In diesem Band reflektiert sie mit anderen das breite Spektrum einer Pädagogik, die ehemals als Freire‘sche „Pädagogik der Unterdrückten“ bekannt wurde und die heute, durch Ilse geprägt, als eine Pädagogik zur Befreiung der Menschen betrachtet werden kann. In ihrem wunderschönen einleitenden Aufsatz: Raupe und Schmetterling. Wege der Veränderung verbindet sie nochmal explizit die Perspektiven ihres pädagogischen Ansatzes in und mit der Internationalen Akademie Berlin (INA gGmbH) und würdigt damit auch uns, ihre Partnerinnen und Partner in unserer Institution.

In der INA war sie mit uns bedingungslos solidarisch. In manchmal schwierigen Phasen halfen ihre klaren Positionen und Wertorientierungen uns, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Sie unterstützte besonders die jüngeren Frauen in unserer Gesellschaft, munterte sie auf und würdigte ihr Handeln. Gegen den Strich denken, neue Ideen entwickeln, Etabliertes hinterfragen bei gleichzeitigem Bewusstsein des solidarischen und respektvollen Wertekerns war ihr in der Weiterentwicklung der INA wichtig. Ilse hat innerhalb unserer Akademie in besonderem Maße die interdisziplinäre Zusammenarbeit und den Zusammenhalt gefördert. Ihr Tod lässt eine große Lücke zurück.

Ilse führte und initiierte viele Diskurse. Der Dialog als Handlungs- und Erkenntnisprinzip kennzeichnete ihr Leben und Wirken. Sie lebte den Dialog sehr intensiv, aufrichtig und einfühlsam als Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlichsten Wissens- und Erfahrungsbeständen: als Austausch zwischen Subjekten mit prinzipiell gleichen Rechten, die das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens verbindet. Ilse trat nie radikal auf, sie agitierte nicht. Konsequent war sie allerdings in ihrem aktiven Eintreten für Dialoge, Frieden, die Menschenrechte und ihrer darauf gegründeten Ethik.

Wir hoffen, wir können diesen Geist weitertragen und so ihr Wirken verlängern.

In tiefer Trauer

Christa Preissing, Marie-Theres Albert, Angelika Krüger, Sophie Kotanyi, Katrin Macha

Für die Gesellschafter*innen und Mitarbeiter*innen der Internationalen Akademie Berlin gGmbH

https://www.inaberlin.org/files/express/Nachruf%20Ilse%20Schimpf-Herken.pdf

230221 via site

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